Mindestens 14 weiße Luftballons, einer für jedes Lebensjahr eines getöteten Jugendlichen, steigen zur Trauerfeier im vergangenen September über Lohr am Main in den Himmel. Knapp acht Monate später beginnt vor dem Landgericht Würzburg der Prozess gegen den mutmaßlichen Mörder des Jungen - er ist auch erst 14. Beide kannten sich, gingen in dieselbe Mittelschule in der fränkischen Kleinstadt im Spessart. Warum der Angeklagte kurz vor dem Ende der Sommerferien, am 8. September 2023, den Italiener mit einem Kopfschuss auf dem Schulgelände getötet haben soll, weiß bisher vermutlich nur er.
«Die Eltern beschäftigt dieses Warum sehr», sagt ihr Anwalt Norman Jacob senior zum Prozessauftakt am Freitag. Über das Motiv gebe es viele Spekulationen im Ort, unter Nachbarn und in den Medien. «Die Familie hat die Hoffnung, dass der Prozess das aufklärt», so Jacob. «Eigentlich geht’s darum, (...), dass von der Täterseite irgendein Signal kommt der Entschuldigung oder der Erklärung, wie es dazu kommen konnte.» Am ersten Verhandlungstag bleiben die Eltern des Opfers dem Gericht fern. Sie seien traumatisiert, sagt Jacob. Die Familie stammt aus Neapel und lebt nach seinen Angaben seit mehr als zehn Jahren in Lohr.
Teenager mit purer Mordlust?
Der Verdächtige schweigt seit seiner Festnahme am Tattag zu den Vorwürfen. Ob er sein Schweigen in dem bis August angesetzten Verfahren brechen wird, ist fraglich - seine Verteidiger werden womöglich eine Erklärung abgeben. Theorie der Staatsanwaltschaft: Der Deutsche verehrt den Serienmörder Jeffrey Dahmer, der eine der grausigsten Mordserien der USA verübte und über den es eine Netflix-Serie gibt.
Oberstaatsanwalt Thorsten Seebach wollte sich zum Prozessbeginn zunächst nicht zu dem Fall äußern. Laut der von ihm verlesenen Anklage gehen die Ermittler davon aus, dass der 14-Jährige die Tat nur begangen hat, um jemanden zu töten.
Prozess hinter verschlossenen Türen
Viele Fragen des Falls werden für die Öffentlichkeit wohl nie beantwortet. Da der Angeklagte jugendlich ist, schreibt das Gesetz eine Verhandlung hinter verschlossenen Türen vor. In Jugendverfahren steht der Erziehungsgedanke im Vordergrund. Bei Mord beträgt das Höchstmaß der Jugendstrafe zehn Jahre. Sicherungsverwahrung ist unter engen Voraussetzungen möglich. Die drei Verteidiger des 14-Jährigen werden das wohl zu verhindern versuchen.
Was über die Tat bekannt ist
Freitag, 8. September 2023, gegen 16.30 Uhr: Ein 15-Jähriger informiert die Polizei, dass ein Freund von ihm auf dem Gelände des Schulzentrums einen Jugendlichen getötet habe - der mutmaßliche Täter habe es ihm selbst erzählt. Eine Polizeistreife trifft als Erstes am Tatort ein und entdeckt in einem dichten Gebüsch den Jungen. Der alarmierte Notarzt kann ihm aber nicht mehr helfen. «Bereits frühzeitig richtete sich ein erster Tatverdacht gegen einen Jugendlichen aus dem Landkreis Main-Spessart», teilen die Ermittler damals mit. Gegen 18.00 Uhr wird der 14-Jährige vorläufig festgenommen. Zwischen 15.00 und 16.00 Uhr soll er das Opfer getötet haben.
Samstag, 9. September 2023: Ein Ermittlungsrichter ordnet Untersuchungshaft für den mutmaßlichen Täter an. Mordverdacht. Das Opfer wird obduziert - ein einziger Schuss von hinten in den Kopf war todesursächlich. Die Tatwaffe, eine Neun-Millimeter-Pistole des Typs Ceska CZ 75, wird am selben Tag in der Wohnung des Verdächtigen sichergestellt. Zahlreiche Einsatzkräfte und Hunde suchen das Schulgelände ab.
Montag, 11. September 2023: Anhand der Individualnummer der Pistole kann ein 66-Jähriger aus Lohr als Eigentümer der Waffe identifiziert werden. Laut Polizei besaß der Sportschütze die Pistole legal. Der Mann und der Angeklagte wohnten im selben Mehrfamilienhaus. Wie der Jugendliche aber an die Waffe kam, ist öffentlich bisher nicht bekannt. Der 66-Jährige war zur Tatzeit im Krankenhaus, wo er wenige Wochen nach dem Verbrechen verstarb - bis zu seinem Tod konnte er nicht mehr befragt werden.
Informationen aus dem Gerichtssaal
Im Prozess geht es nun darum, die Hintergründe aufzuklären. Auch wenn die Verhandlung nicht öffentlich ist, heißt das nicht, dass alle Vorgänge im Gerichtssaal C17 geheim sind. Eine Landgerichtssprecherin will die Öffentlichkeit über Ausgewähltes informieren.
Dies könne helfen, «Gerüchten und Falschinformationen Einhalt zu gebieten», sagt der Stadtpfarrer von Lohr, Sven Johannsen, der Deutschen Presse-Agentur. «Es muss nicht jede Neugierde befriedigt werden. Manches geht uns auch gar nichts an, so zum Beispiel die Frage nach dem Verhältnis zwischen Opfer und Täter.» Aber einige Informationen etwa zur Tatzeit und der Herkunft der Waffe halte er für durchaus hilfreich, «damit die Tat nicht von Menschen zu fantasiereich ausgeschmückt wird, die eigentlich gar nichts wissen können».
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