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Historikerin sieht Kluft bei Erinnern an NS-Verbrechen

Mirjam Zadoff, Direktorin des NS-Dokumentationszentrums München, steht im NS-Dokumentationszentrum. / Foto: Lino Mirgeler/dpa
Mirjam Zadoff, Direktorin des NS-Dokumentationszentrums München, steht im NS-Dokumentationszentrum. / Foto: Lino Mirgeler/dpa

Gedenkstätten und Museen halten die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus wach. Gleichzeitig nehmen Antisemitismus und Rassismus zu. Eine Historikerin warnt vor einer Kluft.

Die Leiterin des NS-Dokumentationszentrums in München, Mirjam Zadoff, sieht die Kultur der Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsozialisten in einem wachsenden Zwiespalt. «Einerseits sollen wir mit Schulklassen darüber sprechen, was wir aus der Zeit von 1933 bis 1945 gelernt haben, andererseits steigen Antisemitismus und Rassismus dramatisch an», sagte die Historikerin der «Süddeutschen Zeitung». «Die Erinnerungskultur kann die Konflikte, die so entstehen, nicht auffangen. Sie kann kein Feigenblatt für eine unmenschliche Politik sein.»

Zadoff nennt Beispiele: «Die EU beschließt ein Asylkonzept, das von den extremen Rechten diktiert wird. Die Freiheit queerer Menschen wird sogar in Europa vielerorts wieder eingeschränkt. Das funktioniert nicht», warnte sie. Zudem pocht sie auf die politische Unabhängigkeit für Institutionen der Erinnerungskultur. «Wenn Politiker in Beiräten sitzen, geht es ganz schnell mit der Instrumentalisierung.»

Mehr als Wissen über NS-Zeit

Die Historikerin forderte ein Konzept von Erinnerungsvermittlung und verwies auf die Gesellschaft, die diverser geworden sei. Die Kultur eines Landes müsse die Erfahrungen aller Menschen abbilden, die in ihm leben. «Um mit ihnen ins Gespräch zu kommen, genügt es oft nicht mehr, Experte in der Vermittlung der NS-Geschichte zu sein, man braucht eigentlich auch noch Expertise in Migrationsforschung und Rassismustheorien.»

So erinnerten sich Geflüchtete aus der Ukraine an den Zweiten Weltkrieg aus einer anderen Perspektive. «Leute, die in den Neunzigern vor dem Krieg in Bosnien und dem Genozid von Srebrenica geflohen sind, wollen, dass auch ihre Erinnerungen abgebildet werden», erklärte sie. Und Menschen aus Afghanistan oder Eritrea brächten eigene Erfahrungen von Flucht, Trauma oder Folter mit. «Wenn jemand zu uns kommt und sagt, auch ich bin geflohen, können wir dem nicht entgegnen: Du hast keine Ahnung, was wirkliche Verfolgung bedeutet. Es ist diese diverse, deutsche Bevölkerung, die die Erinnerung an den Holocaust weitertragen wird.» In der Pflicht sieht sie hier auch Museen, Schulen und Verlage.

Hintergrund für Zadoffs Äußerungen ist das Vorhaben des Bundes und der Gedenkstätten, das Konzept für die Erinnerung an NS-Verbrechen und SED-Unrecht gemeinsam zu überarbeiten. Gegen frühere Pläne von Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne), Themenfelder wie Rechtsterrorismus und Kolonialismus ins Konzept aufzunehmen, hatten Gedenkstätten Bedenken geäußert, da sie dies als Gleichstellung mit den NS-Verbrechen werteten. Nun sollen diese Themenfelder weiter beraten werden.

Erinnerungskultur braucht Allianzen

Zadoff ruft in der Diskussion zu einem bedachten Umgang auf. «Die Erinnerungskultur braucht jetzt Allianzen, Solidarität, gerade wegen des Krieges in Israel und Gaza, aber auch vor dem Hintergrund des Rechtsrucks, mit dem so viele Errungenschaften seit 1945 infrage stehen. Stattdessen wird von den "Feinden der Erinnerungskultur" gesprochen, als befänden wir uns in einem Krieg», kritisierte sie in dem Interview.

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