Für den in russischer Haft gestorbenen Kremlkritiker Alexej Nawalny müsste nach Ansicht des russischen Dirigenten Vladimir Jurowski eine Oper komponiert werden. «Er ist für uns alle jetzt - egal ob, wir mit seinem politischen Programm einverstanden waren oder nicht - ein Symbol der Hoffnung und des absolut selbstlosen Kampfes für dieses Freiheitsideal. Im Endeffekt ist er ein moderner Märtyrer. Jemand, der entscheidet, aus dem sicheren Deutschland nach Russland zu reisen, ohne ein Quäntchen Hoffnung auf Erfolg und wohl wissend, was ihn erwartet», sagte der Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper der Deutschen Presse-Agentur in München. «Darüber müsste man irgendwann eine Oper schreiben - aber nicht jetzt.»
Denn Oper tue sich schwer mit Aktualität. «Das Unnatürliche am Operntheater, am Musiktheater, dass der Mensch den Mund aufmacht und statt zu sprechen anfängt, zu singen, macht es sehr schwierig, die tagesaktuellen Themen zu vertonen», sagte Jurowski, der in seiner Heimat selbst als Persona non grata gilt. Ein politischer Shitstorm war über ihn hereingebrochen, weil er nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine die ukrainische Hymne dirigierte.
«Ich glaube, der Kampf geht einfach weiter. Und da bin ich ja Gott sei Dank nicht allein. Es gibt so viele ganz tolle Künstlerinnen und Künstler und Denkerinnen und Denker, die jetzt im Ausland sind und wirken. Wir tun alle unser Möglichstes, damit in diesem Land endlich wieder Demokratie und einfach normale menschliche und soziale Verhältnisse herrschen. Das versuchen wir mit unserem täglichen Tun - also auch an der Opernfront», sagte der 51 Jahre alte Russe. «Ich sehe meine Tätigkeit persönlich inzwischen auch als eine Form des politischen Kampfes. Für mich ist jede künstlerische Aktion, die sich gegen die Verhältnisse in Russland ausdrückt und ausspricht, ein Angriff auf Putins System - gerade jetzt nach dem Tod von Alexej Nawalny.»
Jurowski dirigiert an diesem Sonntag (10. März) die Premiere der hochpolitischen Oper «Die Passagierin» von Komponist Mieczysław Weinberg. Darin geht es um eine Holocaust-Überlebende, die glaubt, auf einer Kreuzfahrt eine der Aufseherinnen aus dem Vernichtungslager Auschwitz wiederzuerkennen. Regie führt bei der Neuproduktion der künftige Intendant der Staatsoper Hamburg, Tobias Kratzer.
«In diesem speziellen Fall haben wir es natürlich mit einem so politischen Stück zu tun, dass man da ja gar nicht umhin kann, Parallelen zu ziehen», sagte Kratzer der dpa. «Ich glaube, natürlich ist es ein Thema in dem Moment, wo jemand aufsteht und sagt, das ist ein Vogelschiss in der deutschen Geschichte. Dann ist es natürlich umso wichtiger, Einspruch zu erheben und zu sagen: Nee, dieser Vogelschiss, der hat Bedeutung. Und da muss man auch Werke auffahren, die aus einer Routine ausbrechen.»
«Alle Machthabenden haben in der Geschichte der Oper versucht, die Oper für sich auszunutzen. Die Nazis genauso wie die Sowjets und wie die heutige russische Regierung», sagte Jurowski. «Ich glaube, das ist eben sehr wichtig, dass wir, die Opernschaffenden von heute, die politische Bedeutung der Stücke nicht unterschlagen, nicht unter den Teppich kehren, aber uns auch nicht missbrauchen lassen von irgendwelchen parteipolitischen Interessen. Weil ich glaube, die Kunst muss außerhalb der Politik bleiben. Die Kunst darf nicht außerhalb des moralischen Diskurses bleiben, aber Politik und Kunst sollten meiner Meinung nach auseinandergehalten werden.»
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